“Wendepunkte” ist eine Geschichte zum Mitfühlen und Mitdenken. Ich freue mich, dass ich sie aufschreiben und veröffentlichen darf. Angela ist eine Akteurin aus dem echten Leben, der Name ist ein Pseudonym. Angela ist in den 1970er Jahren in West-Deutschland geboren und aufgewachsen. Duktus und Begriffsvorlieben habe ich im Original der Erzählerin erhalten. Die Abwesenheit von einordnenden Kommentaren ist beabsichtigt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine aufschlussreiche Lektüre.

 

WENDEPUNKTE

Seit Angela sich zurückerinnern konnte, interessierte sie sich für ihre Vagina. Die Zweijährige liebte es, sich dort selbst zu berühren und sich Wohlgefühle zu verschaffen. Ihre Orgasmen waren eine willkommene Entladung ihrer körperlichen Spannungen. Masturbation wurde für Angela ein gern und regelmäßig genutztes Mittel, um sich selbst zu beruhigen, um einschlafen zu können, aber auch, um einfach Freude mit sich und ihrem Körper zu empfinden. Angela verstand nicht, warum ihre Mutter ihr die Hände wegschlug, wenn sie sich selbst stimulierte. Kirche und Teufel sollten wohl in dieser katholischen Familie nicht herausgefordert werden. Angela ließ sich nicht stoppen. Stattdessen rief sie ihrem zwei Jahre älteren Bruder, der im gleichen Zimmer im Stockbett oben schlief, zu, er solle mal das Kopfkissen zwischen die Beine nehmen und ganz fest rubbeln, das wäre total toll. Der Bruder rubbelte und quetschte sich seine kleinen Hoden.

Auch vom Vater erfuhr Angela keine Unterstützung für ihre Selbsterforschungen. Sie solle sich anständig hinsetzen, war sein einziger Kommentar, als er eines Mittags ins Wohnzimmer kam und Angela mit einem Sofakissen zwischen den Beinen auf dem Bauch lag und ihren Vater verklärt ansah. Damit war das Thema für den Vater erledigt und er verschwand mit seiner Aufmerksamkeit in der Zweidimensionalität des Fernsehprogramms. Angela fühlte sich mit ihren körperlichen Erforschungen alleine gelassen. Trotzdem spürte sie ganz genau die Verunsicherung, die ihre Handlung und ihr Blick bei ihrem Vater ausgelöst hatten. Sie spürte, wie ihr Vater dem kindlichen Flirt unterlag. Angela empfand es als einen frechen Sieg.

Das Mädchen setzte seine Erkundungen fort, fand heraus, dass es etwas in ihre Vagina einführen konnte und wie sich noch anderweitig angenehme Gefühle erzeugen ließen. Angela war eigentlich mit sich und ihrem Körper auf einem guten Weg.

Angelas älterer Bruder kam in die Pubertät und mit ihm seine Freunde, die auch immer Angelas Spielkameraden gewesen waren. Die Familie lebte auf dem Land und die Kinder fanden sich am Nachmittag nach der Schule eher unorganisiert zusammen, als das gezielt Verabredungen stattgefunden hätten. Die nachbarschaftlichen Verhältnisse produzierten eben diese Situation im Deutschland der frühen achtziger Jahre.

Die Freunde von Angelas Bruder waren entsprechend seinem Alter alle älter als Angela. Das ganze Rudel von Jungen interessierte sich für die kleine Angela. Aber nicht so, wie sie es mochte. Sie bekam die Hose heruntergezogen, die Jungs rieben achtlos an ihrer Vagina, wobei sie lachten, einmal bekam sie Schnee in die Unterhose gestopft. Angela genoss die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde, aber sie mochte nicht, wie diese Gruppe von Jungs mit ihr umging. Es war ein Wechselbad der Gefühle. Sie wurde gesehen. Und sie wurde misshandelt. Gleichzeitig. Offensichtlich gab es das für sie nur als Gesamtpaket.

Als Angela zwölf Jahre alt war lag sie im Sommer nachmittags auf ihrem Bett und masturbierte, während ihr Vater im Garten den Rasen mähte. Es war gut für sie zu hören, dass der Vater nicht im Haus war, so konnte er ihre Aktivität nicht entdecken. Sie hatte sich Jahre zuvor erwischt gefühlt und suchte seitdem Gelegenheiten, bei denen sie ihre Eltern abwesend wusste. Als sie zum Orgasmus kam schwor sie sich, dass diesen niemals mit jemandem teilen werde. Das eine würde ihr niemand nehmen können. Das gehörte nur ihr! Sie wusste, dass die Jungs das haben wollten, dass sie regelrecht auf der Jagd danach waren, wenn sie ihr in die Hose gingen. Im Laufe der Zeit verfestigte sich das Ritual, dass Angela nur mitspielen durfte, wenn sie machte, was die Jungs wollten. Dass sie bald von einigen Jungen den Penis im Mund gehabt hatte, war nicht das, was Angela abstieß, das war eher der spannende Teil ihres Erlebens mit den Halbwüchsigen. Was sie nicht mochte, waren die Erpressungen. Sie genoss es im Mittelpunkt zu stehen und etwas zu haben, wofür sie begehrt wurde und sie fand es schrecklich, benutzt zu werden. Es war nicht das was, es war das wie, das seine Wunden hinterließ. Sie blieb bei ihrem Schwur, ohne zu wissen, welche Konsequenzen er für ihr ganzes Leben haben würde. Ihren heiligen Orgasmus behielt sie für sich. Ihr Bruder und einer seiner Kumpels durften sich auch mal auf sie drauflegen. Unbekleidet. Feixend. Sie müssten aufpassen, wenn da irgendwo was Weißes herauskommen würde.

„Ich bin so geil, ich bin so geil“, schäumte Angelas Bruder einmal über. „Darf ich mich nochmal auf dich drauflegen?“ „Wenn du mir was dafür gibst“, konterte Angela. „Dann bist du eine Hure“, setzte ihr Bruder das dreckige Spiel fort und behielt das Zepter in der Hand. Eine Hure wollte Angela nicht sein. Das Spiel mit der Macht war in vollem Gange. Angela machte alles mit und hielt sich dennoch draußen. Ein Teil von ihr schaute einfach nur zu. Ihr Schwur verfestigte sich. Wenn sie mit den Jungs in den Wald ging um Porno-Magazine anzuschauen oder sie während der Abwesenheit der Eltern bei einem der Jungs zu Hause gemeinsam Porno-Videos ansahen, dachte sich Angela, so macht man das also. So funktioniert das. Und so machte sie es dann auch, wenn später einer der Jungs ihr in die Hose griff und an ihrer Klitoris schrubbte. Ihr Stöhnen war filmreif. Empfunden hatte sie dabei nichts. Zumindest nichts Erregendes. Die kleine Frau tat das, was sie bei den großen Frauen gesehen hatte.

Nach Angelas vierzehntem Geburtstag sprach sie vermehrt mit einer Freundin über Sex, die bereits einen festen Freund hatte und davon schwärmte, wie sich dieser mit seinem Becken auf ihrem bewegte. Beim Erzählen leuchteten die Augen der Freundin. Das Wort Orgasmus fiel nicht, auch dann nicht, als die Freundin anfing mit ihrem Freund zu schlafen und davon begeistert war. Angela wollte das auch erleben. Fand sie als Kind die sexuelle Fantasie noch toll, von Räubern entführt zu werden, die dann etwas Aufregendes mit ihr machen, wollte sie nun wissen, wie es jenseits der Selbsterforschung mit ihrer Sexualität weiter gehen könnte. In echt.

In der Tanzschule verknallte sich Angela das erste Mal. Sie war sechzehn, er achtzehn und hatte eine Freundin. Angela war das egal. Sie tanzten. Sie knutschten. Sie gingen Hand in Hand spazieren und eines Mittags besuchte er sie bei ihr zu Hause. Sie küssten sich, der Junge legte sich auf Angela und bewegte sein Becken. Beide waren bekleidet. Angela dachte: Ah, das ist das jetzt! Kurze Zeit später ejakulierte er mit einem ausatmenden Grunzen in seine Jeans. Für Angela war diese Erfahrung körperlich schmerzhaft. Am nächsten Tag war ihr Schambein ganz blau. Angela fragte sich, was mit ihr wohl nicht stimme, dass sie keine tollen Erlebnisse hatte.

Es kam ein anderer junger Mann in Angelas Leben. Ihr erster Freund. Sie manipulierte sein Geschlechtsteil bis er kam und wenn er ihre Vagina bearbeitete, führte sie vor, was sie bei den großen Frauen auf dem Bildschirm gesehen hatte. Gefühlt hat sie dabei immer noch nichts. Also probierte sie weiter. Die Protagonisten wechselten und die Choreographie blieb die gleiche.

Bei den Jungs sprach sich währenddessen herum, dass man mit Angela alles machen konnte. Wer also mal etwas ausprobieren wollte, wendete sich an Angela. Angela fand das gut, so gesehen zu werden, dass sie so freizügig war. Die Jungs wollten mit ihr sein. Es war ein seltsamer Gewinn an Status, den Angela verbuchte. Die Jahre vergingen. Das Muster verfestigte sich.

Kurz nach Angelas Volljährigkeit verliebte sie sich. Thomas. Sie empfand etwas für den jungen Mann. Über ein verlängertes Wochenende fuhren die beiden gemeinsam nach Sylt. Thomas streichelte Angelas Brüste und liebkoste sie. Mit seinen Händen, mit seinem Mund. Er war sehr aufmerksam. Angelas Körper wachte auf und begann zu vibrieren. Angela war begeistert. Das war Off-Porno. Sie vergaß die Bildschirmbilder. Auf der Heimreise streichelte sie Thomas Penis und er liebkoste ihren Körper. Sie saßen abwechselnd am Steuer seines Wagens und genossen ihre Ekstase. Zum Glück war wenig Verkehr.

Zu Hause angekommen versuchten die beiden den mitgebrachten Schwung zu kultivieren. Es misslang. Zu Hause war nicht Sylt. Sie lebten zusammen wie Bruder und Schwester, Angelas Ess-Brechsucht hatte ihren Höhepunkt erreicht.

Angela jobbte zu dieser Zeit in einem Parkhaus. Jeden Morgen kam der gleiche gutaussehende Mann und löste sein Ticket für den Tag, jeden Abend verabschiedete er sich lächelnd von Angela. Wochenlang. Irgendwann begann das Lächeln zu schmerzen. Der Mann sprach Angela an. Sein Deutsch war schwach, der Afro-Amerikaner war noch nicht lange in der Stadt und deutsch sprach er nur in seinem Sprachkurs. Angela war von seiner Schönheit und Herzlichkeit erschlagen. Sie stimmte der Einladung des Mannes zu einem Kaffee mit einem wortlosen Nicken zu. Als sie sich am nächsten Tag gegenüber saßen, fand Angela die Sprachkenntnisse des Mannes völlig ausreichend. Er hatte ein Engagement bei einer internationalen Tanzkompanie und trainierte und probte während des Tages. Abends saß er mit anderen Tänzern zusammen oder schaute amerikanisches Fernsehen. Angela war sein erster privater Kontakt in Deutschland. Es machte ihm Freude zu zeigen, was er in so kurzer Zeit gelernt hatte. Als das Café schloss, gingen die beiden spazieren. Es wurde Nacht. Unter den Laternen im Park tanzten sie miteinander. Das Leben war plötzlich leicht. Der große Kerl legte Angela leichthändig auf die Motorhaube eines parkenden Fahrzeugs und küsste sie. Angela fühlte sich wohl. Als der Morgen graute, verabschiedeten sie sich am Eingang des Parkhauses und verabredeten sich für ein weiteres Treffen. Die Spaziergänge gewannen an Temperatur und die Küsse wurden länger. Angelas Porno-Konzept schlug plötzlich wieder zu. Aus dem Nichts. Einfach so. Sie kniete sich vor den Mann, holte mit gekonnten Griffen seinen Penis aus der Hose und fing an ihn zu lutschen. Obwohl die Aktion dem Körper des Mannes offensichtlich gefiel, wie Angela an der beschleunigten Atmung hören konnte, erhob etwas in ihm Einspruch. Er griff ihr unter die Arme und zog Angela nach oben. Sein Geschlechtsteil brachte er dorthin, wo es seiner Meinung nach in der Öffentlichkeit gehörte. Die Gürtelschnalle klackerte beim Verschließen. Angela schaute den Mann fragend an. Er lächelte und küsste sie. Und nannte ihre Augen blaue Seen, aus denen er trinken wolle. Für Angela war alles an dem Mann fremd, der tanzte um zu fühlen, nicht um sie zu beeindrucken, der etwas erleben wollte, von dem Angela bis dahin gar nicht wusste, dass es das gab. Er nahm Angela mit in seine Welt des lebendig seins, in die sie ihm manchmal kaum noch folgen konnte. Angela fühlte sich klein neben ihm. Wegen ihres beginnenden Studiums verließ sie die Stadt. Ein paar Mal sahen sie sich noch am Wochenende, bevor der Kontakt abbrach. Sie hatten sich gegenseitig in ihren Welten besucht, in denen der jeweils andere nicht hatte heimisch werden können. Thomas ging während dieser Episode verloren.

Angela lernte in der neuen Stadt einen sensiblen jungen Mann kennen, der makrobiotisch kochte und sich nicht für Porno interessierte. Er war der erste Mann mit dem Angela schlief. Sie war dreiundzwanzig. Für das erste Mal verband er ihr die Augen und nahm sie mit auf eine Sinnesreise. Ihr Körper öffnete sich ganz langsam. Angela fand das unbeschreiblich schön und einfühlsam.

Die beiden entwickelten eine Sexualität, die für Angela Orgasmen produzierte. Sie setzte sich auf ihn, bewegte ihr Becken und kam. Dann drehte sich das Paar um, er missionierte, zog seinen Penis aus Angela heraus bevor er ejakulierte, das Paar verhütete nicht, fertig. Angela wischte sich ihn mit einem Papiertaschentuch vom Bauch. Funktional und praktisch. Immerhin. Dass der Mann den zweitkleinsten Penis hatte, der Angela je begegnet war, ließ sie zu dem Schluss kommen, dass die Größe allein wohl nicht ausschlaggebend war. Die beiden wanderten gemeinsam nach Schweden aus, um dort zu kochen. Der Mann hatte zwar Überzeugungen von Sexualität, die Angela anregend fand, wie Sinnesreisen und spezielle Stoßtechniken beim Geschlechtsverkehr, aber es waren eben auch Ideen. Halt nur ohne Porno. Aber anregend genug, dass Angela von ihrem Schwur Pause machte und mit ihm kam. So gut wie immer. Doch die Konflikte des Paares nahmen zu und Angela ging nach London. Der Rest blieb beim Alten. Sie kochte makrobiotisch und liebte nach dem bekannten Muster. Vom Schwall der Hormone getragen, liefen ihre Beziehungen eine Weile ganz gut, dann wurde es anstrengend und am Ende lutschte sie ihren Freunden den Schwanz, weil sie keine Lust mehr hatte mit ihnen zu schlafen. Orgasmen beim Geschlechtsverkehr hatte sie nach dem Koch ohnehin keine mehr gehabt. Daran änderte auch eine Affäre mit einem verheirateten Mann nichts mehr, der total auf Angela abfuhr, worauf sie wiederum total abfuhr. Auch dieser Effekt verbrauchte sich rasch. Dopamintrips funktionieren nicht ewig. Sie riefen einander einfach nicht mehr an.

In London lernte Angela schamanisches Arbeiten kennen mit dessen Hilfe sie erstmalig einen wirklichen Zugang zu sich bekam, zu ihrem Schmerz und zu ihrer Kraft. Die Ess-Brechsucht hörte auf.

Ein Mann tauchte in ihrem Leben auf, den sie zunächst einige Male dienstlich am Telefon gesprochen hatte und bei dessen Stimme sie förmlich dahinschmolz. Die beiden fingen an über die Distanz der verkabelten Verbindung miteinander zu flirten und verabredeten sich irgendwann zu einem persönlichen Treffen. Die Chemie stimmte. Sie verbrachten Zeit miteinander. Meistens im Bett. Mit ihm machte Angelas Schwur wieder einmal Pause und sie konnte beim Geschlechtsverkehr den Höhepunkt erreichen. Sie konnte sich diesem Mann hingeben. Ihr Körper öffnete sich. Einmal ejakulierte sie während sie mit ihm schlief und erschreckte darüber. Das hatte sie noch nie erlebt. Der Mann blieb gelassen und umarmte sie fester. Nach kurzer Zeit fragte er sie, wie es denn nun mit ihnen beiden sei. Angela schaute fragend, der Mann erklärte seinen Wunsch nach einer verbindlichen Partnerschaft mit ihr. Angela bekam Angst und ging einen Schritt zurück. Das wiederum verunsicherte offensichtlich den Mann. Er rief an und sagte, es sei vorbei. Sie konnte nicht weinen. Ihr Körper schaltete auf dumpf. Angela war Mitte dreißig, Single und ratlos.

Angela machte sich auf die Suche in ihrem Inneren und fand heraus, dass sie sich nie wirklich hundert Prozent auf eine Beziehung eingelassen hatte. Immer nur siebzig. Höchstens. Immer wenn sie wieder mit einem Mann zusammen war, konnte sie sofort spüren, dass sie ihn auch wieder verlassen würde. Sie stellte sich ihren Ängsten und nährte die Sehnsucht voll und ganz mit einem Mann zusammen sein zu wollen. Sie konnte diesen Wunsch jetzt so deutlich spüren, weil der Schmerz darüber so groß war, dass sie diesem Mann kein hundertprozentiges ja geben konnte, obwohl sie genau fühlte, dass sie mit ihm etwas ganz Besonderes erlebt hatte. Aber es war vorbei. Der Mann hatte sich entschieden. Ja oder nein. Kein herumgeeiere. Der Abschied fühlte sich für Angela an wie sterben.

Auf einem Spaziergang sah Angela zwei Bäume, die ineinander verschlungen auf einer Wiese standen. Sie brach in Tränen aus. Der Wunsch nach einer Partnerschaft ging einher mit der Vision einer anderen, gefühlvolleren Sexualität, die ihr entsprach. Keine Pornokopien mehr, kein Gerammel, kein oberflächliches Gerubbel an den Geschlechtsteilen. Angelas Interesse an Sex war ungebrochen. Aber es war auch klar, dass sie etwas anderes brauchte, als das, was sie in der Vergangenheit zu leben in der Lage gewesen war. Angelas Seele und ihr Körper waren es müde, dass Sehnsucht und Frustration endlos miteinander rangen. Sie wollte Sex und Beziehung als Einheit, sie wollte eine Verbindung von Herz und Sexualität.

Sie fing an zu lesen und zu fragen, machte Seminare und Einzelsitzungen mit Beratern und begann ein Selbsterfahrungstraining mit einem Lehrerpaar, die in ihrer Arbeit den Fokus auf Partnerschaft und Sexualität legten und fand zweierlei zur gleichen Zeit: Ein Buch und einen Mann, der das Buch bereits kannte. In dem Buch ging es um Entschleunigung, Achtsamkeit und Absichtslosigkeit. Der Fokus wurde beim Liebemachen auf die vielen kleinen Sensationen gerichtet, denen Aufmerksamkeit gegeben werden konnte, wenn sich der Penis in der Vagina befand. Die gehetzte Jagd nach dem Orgasmus hatte bei dieser Art der gemeinsam gelebten Körperlichkeit keine Bedeutung. Der Mann gestand Angela seine Liebe. Das war die Gelegenheit. Angela griff zu. Sie verstanden sich von nun an als Paar. Es folgte eine Zeit des Forschens.  Als der Mann Angela die Hose auszog wie noch kein anderer Mann vor ihm, fühlte sich Angela zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Person. Der Mann genoss sein Handeln und feierte jeden Quadratzentimeter von Angelas Haut, den er freilegte. Langsam. Sehr langsam. Das Wort Erotik schoss ihr durch den Kopf. Angela atmete und schmolz dahin. Sie fühlte sich geachtet. Ihrer Hose entledigt trank sie Wein aus dem Mund des Mannes. Das Fließen des Rebensaftes von Mund zu Mund war für sie die äußere Form des Fließens ihrer körperlichen Energien. Angela war Off-Porno. Sie streichelten sich, sie küssten sich, sie nahmen sich alle Zeit der Welt. Der Mann drang in sie ein und als sein Penis vollständig von Angelas Vagina umschlossen war, hielt er inne. An dem Punkt, an dem es beim Sex so richtig hätte losgehen können, gaben die beiden der Ruhe den Vorzug. Bis auf winzige Bewegungen lagen sie ineinander, beieinander, atmeten und achteten auf die inneren Erlebnisse. Streng nach Gebrauchsanweisung, wie die beiden das Buch über die stille Liebe humorvoll nannten. Etwas in Angela war zutiefst zufrieden und körperlich erfüllt. Die Hitze fühlte sich dazu eingeladen in Erscheinung zu treten. Angela übte sich in Geduld und mochte diese neue Form der Sexualität. Doch die Explosionen blieben durch die Regungslosigkeit aus. Die beiden begannen damit, die Anleitung ein ganz klein wenig zu verändern und bewegten sich sanft ineinander. Die aufgebaute Energie kam in Bewegung. Die Verlockung, es heiß zu treiben, nahm zu. Bei ihrem Partner rannte Angela damit eine offene Tür ein. Sie vögelten. Mit Bewegung, mit Reibung. Die Hitze freute sich darüber, frei gesetzt zu werden. Angela näherte sich regelmäßig ihrem Höhepunkt, kam aber nicht über den Gipfel. Angelas anfängliche Zufriedenheit begann sich aufzulösen. Die Sehnsucht mit einem Mann beim Verkehr einen Orgasmus zu haben, war wieder geweckt worden. Die Jagd begann. Sie probierten alles Mögliche aus. Ein Sortiment von Vibratoren kam ins Spiel. Angela hatte damit bereits viel Erfahrung. Wenn sie alleine war, befriedigte sie sich oft mit dem bunten Spielzeug. Doch im Kontakt mit ihrem Partner verebbte die heiße Welle lange bevor sie brechen konnte. Irgendwann sprang sie beim Liebemachen aus dem Bett und schrie im Schlafzimmer herum, was die ganze Scheiße denn solle. Ihre Verzweiflung war auf dem Höhepunkt. Angela las die Gebrauchsanweisung noch einmal durch. Kapitel für Kapitel. Was sie verstand war, dass durch den Geschlechtsverkehr ohne zielgerichtete Aktivität ein sensibler Raum geschaffen werden konnte, der sich allmählich anfing zu energetisieren. Es wurde sogar empfohlen, sich völlig regungslos ineinander zu befinden und den Körpern zu lauschen. Gerne eine Stunde oder länger. Gerne täglich oder öfter. Angela stellte sich das vor wie einen Luftballon, den die beiden Liebenden bei jedem Akt ein Stückchen weiter aufbliesen. Etwas in ihr war völlig damit einverstanden, die Sache mit dem Orgasmus erst einmal zu vergessen und einfach zu spüren, was es sonst noch so zu spüren gab.

Angela sprach mit ihrem Partner. Sie wusste, dass für ihn der Orgasmus zum Sex dazugehörte. Während er Angela zuhörte, sah sie ihn mehrfach schlucken und allmählich legte sich seine Stirn in Falten. Doch er nahm Angelas Sehnsucht ernst und stimmte zu. Orgasmuspause. Für beide. Angela würdigte sein Opfer mit Dankbarkeit.

Die Rückschläge folgten. Angela fing an ihn zu kontrollieren und prüfte während sie miteinander schliefen, ob er sich nur ein wenig anders hinlegen wollte oder ob er sich bewegte um zu kommen. Er versuchte sich unbemerkt zu bewegen, sie bemerkte jede Bewegung. Das Drama nahm seinen Lauf. Er kam. Sie flippte aus. Für Angela fühlte sich das so an, als ob der Orgasmus ihres Partners die in ihr aufgebaute Energie verpuffen ließ, so, als ob man einen aufgeblasenen Luftballon loslässt, bevor man ihn verknotet hat. Am Ende der ziellosen Reise durch die Luft liegt dann das schlaffe Stück Plastik am Boden. So fühlte sich Angela dann auch, nachdem die orgiastischen Bewegungen ihres Partners ihr Ende gefunden und sich sein Atem beruhigt hatte. Für Angelas Partner war es manchmal schwierig seinen natürlichen Energiefluss zu lenken. Er fand diese stille Form der Sexualität schön und entspannend, aber es war für ihn irgendwie auch kein richtiger Sex. Er erlebte wenig. Frustverlagerung von ihr zu ihm. Es war okay für ihn Ladung aufzubauen, um sie zu entladen. Ladung aufzubauen um sie zu halten, schien ihm wenig lustfördernd. Wozu? Das Paar war herausgefordert den gemeinsamen Weg immer wieder neu zu verhandeln. Angelas Interesse an Sexualität war ungebrochen, sie genoss die ruhende Vereinigung mit ihrem Partner zunehmend, aber sie bestand darauf, dass er nicht kam, während sie zusammen waren. Nach einer Weile äußerte ihr Partner, dass ihm diese Situation die Möglichkeit geboten hat, sich von seinem Orgasmus unabhängig zu machen. Angela hörte diese Aussage mit einer großen Erleichterung. Die Konflikte um die gemeinsame Sexualität nahmen ab. Die beiden fuhren die Energie komplett herunter und genossen die Intimität in Stille. Angela war angetreten, um sich hundertprozentig auf einen Mann einzulassen und komplettierte den selbstgewählten Auftrag nach sechs Jahren. Die beiden heirateten.

Kurz nach der Hochzeit forderte das Leben viel von dem Paar. Äußere Stressoren wie Beruf und Familie raubten ihnen Energie und Zeit. Angelas Vater starb nach langer Krankheit. Monatelang pausierte die Sexualität der beiden. Als sie einen Wiedereinstieg fanden, konnte Angela die Mechanismen ihrer Sexualität gut beobachten. Sie entlud sich nicht genital durch einen Orgasmus, sie entlud sich emotional, indem sie weinte oder ein Drama inszenierte. Es fühlte sich für Angela an, als würde ihr Herz ejakulieren. Den Sex hatten sie zu diesem Zeitpunkt vollständig heruntergekühlt. Völlig unromantisch stöpselten sie sich zu einer verabredeten Zeit ineinander, ein wenig Gleitgel half dabei, die nicht vorhandene Erregung auszugleichen und praktizierten für eine bestimmte Zeit die Beobachtung des Energieflusses zwischen sich. Es war eine spröde Meditation, die wenig Lust verschaffte. Jetzt fand Angela, sie könnten wieder etwas Energie aufbauen, sie mussten diese ja nicht gleich verschleudern. Ihr Partner nickte zustimmend. Aber wie bekamen sie ihre Sexualität jetzt wieder belebt? Es war ihnen beiden gelungen, sich von Sexualität und Orgasmen unabhängig zu machen. Aber was kam jetzt? Wie kam sie ganz zu sich? Wie könnte sie die ganzen Fixierungen lösen?

Angela wusste so wenig. Und war doch froh, diesen Weg gegangen zu sein. Und will ihn weiter gehen. Echten Kontakt und echte Verbindung spüren. Zwei Körper und der Fluss der Energie. Den Mut aufbringen, sich ganz hinzugeben. Ohne zu wissen, wohin es führt. Da zu sein. Jetzt. Aus ganzem Herzen zu lieben. Und die Dankbarkeit zu spüren, dran geblieben zu sein. Dankbar sich selbst gegenüber für dieses Geschenk, dass sich Angela damit selbst gemacht hat.